Fünf junge Männer mit einem Traum: einem lebenswerten Dasein. Dies ist die Geschichte der Band von Traiskirchen, von ein bisschen Frieden in einer irren Welt*
Borhan singt. Und wie er singt! Mit kräftiger Stimme. Inbrünstig und hingebungsvoll. Pumpt über einen Blasebalg mit der linken Hand rhythmisch Luft in sein Harmonium, spielt mit der rechten fremd klingende, orientalische Melodien. Manchmal schließt er die Augen. Öffnet er sie, funkeln sie vor Vergnügen. Er blickt in die Runde. Links von ihm sitzen Majid, Milad, Abdul und Memo. Der 18-jährige Memo, der eigentlich Mehmed heißt, Mehmed Ciftci, ist Kurde. Die anderen drei kommen wie Borhan aus Afghanistan.
Sie sind erst seit wenigen Wochen hier. Leben im Flüchtlingslager Traiskirchen, warten auf ihr Asylverfahren. Abdul und Majid sind 17, Milad 16 – so alt wie Borhan, als er nach einer abenteuerlichen Flucht in Österreich ankam. Heute ist Borhan 19. Seit drei Jahren wartet er auf den positiven Abschluss seines Asylverfahrens.
In den ersten fünf Monaten dieses Jahres, also noch vor Beginn der dramatischen Flüchtlingswelle, haben insgesamt 3.960 Menschen aus Afghanistan einen Asylantrag gestellt, 5.272 aus Syrien und 2.552 aus dem Irak. Seit 2010 stieg die Zahl der in Österreich Asylsuchenden, heißt es von der Statistik Austria, auf zuletzt 28.064 im Jahr 2014. „Dabei hat sich in Abhängigkeit von den aktuellen Krisenherden Syrien als derzeit wichtigstes Herkunftsland etabliert.“ Im ersten Halbjahr 2015 wurde an 3.980 Personen die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Um 166 (+4,4 Prozent) mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Mehr als ein Drittel der neuen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger (36,3 Prozent) wurde bereits in Österreich geboren.

Neun Monate war Borhan in Traiskirchen. „Fünf Monate waren ganz schlecht“, sagt Borhan, „dann habe ich Arbeit gefunden“. Er meint eine Beschäftigung, denn arbeiten darf er nicht. Er begleitet einen Arzt als Dolmetscher. Ein Glück für Borhan, ein Glück für den Medizinier. Borhan spricht neun Sprachen. Auf Deutsch erzählt er, wie er nach Österreich gekommen ist. „Ich bin von Peschawar (in Pakistan, Anm.) nach Istanbul geflogen. Ein Schlepper hat mir eine Einladung geschickt. So habe ich ein Visum bekommen.“ 6.000 Euro zahlt Borhan für die Dienste des Schleppers. Das Geld hat er von seinem Onkel, der in Karatschi ein Hotel betreibt. „In Istanbul habe ich acht Monate gelebt. Ich habe bei einem Freund gewohnt. Und auch gearbeitet. Ich habe gebügelt“, erzählt der 19-Jährige.
Wir sitzen in der Küche. Das Fenster ist offen. Es ist einer der letzten warmen Tage in diesem Jahr. Dumpf hören wir die Trommeln, die Memo und Abdul schlagen. Wird die Tür geöffnet, ist sofort zu hören, dass die anfängliche Zurückhaltung einer zunehmenden Begeisterung gewichen ist. Die Schläge werden kräftiger. Der Gesang auch. „Von Istanbul sind wir mit dem Auto zur griechischen Grenze gefahren.“ Sie werden gefasst, zurück in die Türkei geschickt. Sitzen auf einer Insel fest. Zu viert steigen sie ins Wasser. Schwimmen. Die 30 Minuten scheinen wie eine Ewigkeit. Dann haben sie Griechenland erreicht. Marschieren. Stundenlang. Tagelang. Erreichen Makedonien. Serbien. Ungarn. „Von dort sind wir mit dem Zug nach Wien gefahren“, sagt Borhan.

Am Montag, dem 7. September, berichtet die ungarische Nachrichtenagentur MTI, dass allein von Freitag bis Sonntag 5.386 Flüchtlinge von der ungarischen Polizei aufgegriffen worden seien. Die Lage sei katastrophal, Tausende machen sich wie an den Tagen zuvor zu Fuß nach Österreich auf. Ihre Lage sorgt in Österreich, aber auch in Deutschland für eine Welle der Hilfsbereitschaft. Nicht nur in meiner Facebook-Timeline ist sie längst das bestimmende Thema. Schriftsteller Bernhard Aichner teilt am Samstag einen Beitrag von Regisseur David Schalko. Er schreibt: „Heute Westbahnhof. Hundert Menschen, die helfen und willkommen heißen. Ein herzzereißendes Bild. Menschen aus aller Herren Länder. In offensichtlicher Not. Unendlich froh, hier angekommen zu sein. Ein Jugendlicher aus Afghanistan, der mich fragt, ob er mit meinem Handy kurz seinen Eltern sagen kann, dass alles in Ordnung ist. Allein diesem Telefonat zu lauschen, hat mich mit echtem Glück erfüllt. Er umarmt mich und küsst mich. Wir dürfen diese Menschen nicht enttäuschen.“
An welchem Tag er tatsächlich angekommen ist, weiß Borhan nicht mehr. Am 6. August 2012 vielleicht. Oder auch am 7. Heute lebt er in einem Privatquartier im niederösterreichischen Ternitz. 320 Euro bekommt er monatlich. Das muss reichen. Das Harmonium, auf dem er spielt, hat ihm Schauspielerin Hilde Dalik geschenkt. „Ich glaube, wir haben es irgendwo im Weinviertel gekauft“, sagt sie. Dass die fünf Burschen heute gemeinsam musizieren, zum ersten Mal übrigens, ist ihre Idee. Alex Wunderbar vom Cosmix-Studio hat Instrumente gebracht. Daliks Wohnung, in der früher Falco lebte, wird für Stunden zum Proberaum. Zum Proberaum für die Band aus dem Lager. Für die Traiskirchen-Band. Heißen
soll sie aber anders. „Caravan“, fände Borhan gut. „Karawane?“, frage ich. Weil ich nicht sicher bin, ob ich ihn richtig verstanden haben. Er nickt. Und grinst. Und tut so, als würde er ein Kamel besteigen und losreiten. Karawane also. „Ja“, sagt Borhan, „Menschen, die immer unterwegs sind.“
Bereits im Juni veröffentlicht das UN-Flüchtlingshochkommissariat eine bewegende Erklärung: Im letzten Jahr mussten mehr Menschen fliehen als jemals zuvor seit UNHCR Statistiken erstellt. Weltweit haben fast 60 Millionen Menschen ihre Heimat durch Konflikt und Verfolgung verloren. Beinahe 20 Millionen sind Flüchtlinge und mehr als die Hälfte von ihnen Kinder. Ihre Zahl steigt rasant an, jeden Tag und auf jedem Kontinent. Vergangenes Jahr wurden an jedem Tag 42.500 Menschen zu Flüchtlingen, Asylsuchenden oder Binnenvertriebenen – viermal mehr als noch vor vier Jahren. Auf uns ruht ihre Hoffnung. Auf uns vertrauen sie, um zu überleben. Sie werden sich erinnern, was wir tun. Doch während sich diese Tragödie abspielt, verschließen einige Länder, die in der Lage wären zu helfen, ihre Tore gegenüber Schutzsuchenden. Grenzen werden geschlossen, „Push-Backs“ werden zahlreicher und die Feindseligkeiten nehmen zu. Die Möglichkeiten schwinden, über legale Wege Zuflucht zu finden. … Wir haben den Moment der Wahrheit erreicht. Die Stabilität in der Welt bricht auseinander und hat Flucht und Vertreibung in ungekanntem Ausmaß zur Folge. Die Weltmächte sind entweder zu passiven Beobachtern in Konflikten geworden, wegen derer so viele Menschen aus ihrer Heimat fliehen müssen, oder sie halten als Akteure Abstand von ihnen. In dieser kriegerischen Welt mit ihren unklaren Kräfteverhältnissen sind Unvorhersehbarkeit und Straflosigkeit die neuen Spielregeln. Daher ist es dringend notwendig, dass all jene mit Einfluss auf die Konfliktparteien ihre Differenzen überwinden, um gemeinsam die Bedingungen für ein Ende des Blutvergießens zu schaffen.

Warum ist Borhan hier? Seine Familie ist bereits vor 25 Jahren vor den Taliban von Afghanistan ins pakistanische Peschawar geflüchtet. Betreibt dort ein Hotel mit einem Restaurant. 2007 ein Bombenanschlag. Fünf Familienmitglieder sterben. Zwei Jahre später wird Borhans damals 18-jähriger Bruder Najeeb bei einem Selbstmordattentat an seinem Arbeitsplatz getötet. „Meine Mutter hat gesagt, ,lieber lebst du weit weg von mir, als dass du stirbst. Ich kann nicht noch einen Sohn verlieren.‘“ Es ist die Angst seiner Mutter, die ihn das Land verlassen lässt. Und eine Sehnsucht: „In meiner Heimat kann ich nicht so leben, wie mein Inneres mir sagt. Wenn man dort Musik macht, ist es nicht gut. Aber Musik ist mein Leben.“ In Österreich bringt Borhan sich das Spiel auf dem Harmonium bei: „Musik macht mir Spaß. Manche Leute, sagt man, haben Musik im Blut. Ich bin so. Ich fühle die Musik. Und dann tanze ich. Ich tanze immer. Ich tanze, wenn ich esse. Ich tanze, wenn ich spreche.“ Fragend sehe ich Borhan an. Memo sieht mich staunen. Und erklärt, was sein Freund sagen will: „Er meint, dass er alles, was er macht, mit viel Gefühl macht.“ – „Genau“, sagt Borhan, „ich mache alles mit viel Gefühl.“
Raoul Haspel, der mit seiner „Schweigeminute“ für kurze Zeit tatsächlich Nummer 1 in den Charts ist, postet auf Facebook, wenige Stunden bevor die ungarische Nachrichtenagentur MTI von den neuerlichen Aufgriffen berichtet, ein siebensekündiges Video: „Bye Hungary, hello Vienna“, winkt er lachend in die Kamera. Im Fonds des Wagens Flüchtlinge, die er in ein Hotel nach Wien bringt. Wir sehen lachende Gesichter, fröhliche Menschen. Fotograf Götz Schrage schreibt: „Und ich habe Frauen gesehen, an denen mir etwas auffiel und ich erst nicht wusste, was es war. Irgendwo zwischen Parndorf und Gramatneusiedl müssen diese Frauen gespürt haben, dass sie jetzt endlich, nach dem Krieg, nach den Booten, nach den Fußmärschen, nach allem eben, in Sicherheit sind. Und sie haben den Kajalstift ausgepackt, den Eyeliner und das Rouge. So als ob sie den Gedanken hätten, wir haben das alles überlebt, jetzt wollen wir auch schön sein. Und sie waren schön. – Berührend schön.“ Und sein Kollege Markus Thums schreibt: „Als ich vor wenigen Monaten mit ,boatpeople‘ anfing, fühlte ich mich hilflos. Ich hatte Angst, dass man jetzt wieder ein paar Tage über die Toten im Mittelmeer berichtet und dann schnell wieder alles vergessen hat. Die Hetzer waren so laut, man hatte das Gefühl, sie stellen die Mehrheit. Die Regierung versagte bzw. wollte versagen, und es schien ein weiteres dunkles Kapitel in unserer Geschichte zu werden. So kann man sich täuschen. Diese überwältigende Welle an Hilfsbereitschaft und Liebe spült die Hetzer und Hasser einfach hinweg und zeigt der Welt, was möglich ist, wenn man sich wieder auf seine Menschlichkeit besinnt! Liebe Helfer und Unterstützer, wir schreiben gerade Geschichte, nichts weniger!“
Liebeslieder mag Borhan besonders gerne: „Wenn ein Mann von einem Mädchen singt, das er verloren hat, fühle ich mich so, als wäre ich selbst der Mann. Es fühlt sich so an, als würde ich meine eigene Geschichte erzählen.“ Sechs Lieder hat Borhan bereits geschrieben, sechs eigene kleine Geschichten. Später setzt er sich wieder zu seinen Freunden, setzt sich auf den Boden, rückt das Harmonium näher an sich heran. Hilde Dalik sagt: „Wir wollen fixe Probezeiten. Wir wollen Gäste einladen, den Wolfi Schlögl (Sofa Surfers), den Alex Wunderbar. Es geht nicht nur um traditionelle afghanische Musik, vielleicht mischen wir sie auch mit Popmusik, mit afrikanischer oder indischer Musik.“ Später, als das Quintett so laut und leidenschaftlich musiziert, dass man sich in seiner unmittelbaren Nähe nicht mehr unterhalten kann, sehe ich Borhan beim Singen zu. Mit geschlossenen Augen. Und mir fällt ein Satz ein, den er draußen in der Küche gesagt hat: „Wenn ich singe, ist das so, als würde ich atmen.“
P. S.: Die Band aus Traiskirchen hat mittlerweile erste kleine Konzerte gespielt. Geprobt wird regelmäßig, meist einmal pro Woche. Mit dabei: der frühere „Sofa Surfer“ Wolfgang Schlögl.
*Dies ist die aktualisierte Version einer Reportage, die in der Oktober-Ausgabe 2015 des WIENER erschienen ist.