Jaeger-LeCoultre: «Wenn es um wertvolle Uhren geht, spielt Zeit keine Rolle»

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Zu Besuch im Vallée de Joux, wo bei Jaeger-LeCoultre Uhren zu Meisterwerken werden

Ich halte die Luft an. Wage nicht zu atmen. Gerade erst hat mir Murielle Romand Platz gemacht. Ich sitze auf ihrem Drehsessel. Dass ich mich breitbeinig darauf niedergelassen habe, hat sie nicht einen Augenblick aus der Ruhe gebracht. Wie selbstverständlich hat sie mein linkes Bein neben mein rechtes geschoben. 

Murielle Romand graviert feine Guillochierungen in Metallplatten.

Jetzt starre ich durch das Mikroskop auf eine silberne Platte. Mein rechter Daumen sucht Halt auf einem sanft geschwungenen Stück Messing, mit der linken Hand bemühe ich mich, ein untertassengroßes Rad möglichst gleichmäßig zu drehen.

Ich bin im Vallée de Joux, wo die Uhrenmanufaktur Jaeger-LeCoultre (Schääscher-LeKultr, wie sie hier, im Schweizer Jura, sagen) zu Hause ist. Es ist ein abgeschlossenes Hochtal, rund 1.000 Meter über dem Meer gelegen.

Das Gras sprießt saftig grün, an den Hängen verteilen sich unscheinbare Häuschen. Die Sonne knallt auf weite Wiesen. Eine Idylle à la Heidi – ist man geneigt zu glauben, während man sich die Serpentinen hochschlängelt. Ein Irrtum, wie ich schnell feststelle, als ich durch gesicherte, hohe Glastüren die Firmenzentrale betrete.

Die Idylle weicht einer nicht minder anziehenden Weltläufigkeit. Wanduhren in Reverso-Optik verkünden, wie spät es gerade in New York und London, Paris und Moscou (Originalschreibweise), Hong-Kong und Tokyo ist. Vor dem Zeitmesser mit Paris-Time steht Gwenaelle Pourcelot und strahlt uns an. Sie spricht englisch mit französischem Akzent. Dass ihr dabei das H ab(h)anden gekommen ist, beschert ihr einen Sympathie-Bonus mit unendlicher Gangreserve.

Frau Pourcelot entpuppt sich als detailbegeisterte Kennerin der großen Geschichte von Jaeger-LeCoultre. Sie führt uns durch die Werkstätten, in denen die Bestandteile der legendären Zeitmesser erzeugt und von großen Könnern zusammengefügt werden.

Sie zeigt uns Anker – und die Schräubchen dazu. Letztere sind so winzig, dass sie mit freiem Auge kaum zu erkennen sind, es könnten auch Bakterien in einer Petrischale sein, die uns hier mit stolzem Lächeln von Frau Pourcelot vorgeführt werden.

Auf dem Weg durch die einzelnen Werkstätten lerne ich Heinz Schlunegger kennen, der sofort deutsch zu sprechen beginnt, als ich ihm erzähle, dass ich aus Wien komme. Herr Schlunegger ist gerade dabei, 79 Diamanten an einer Uhr zu befestigen.

Heinz Schlunegger setzt in beharrlicher Feinarbeit Diamanten in die verschiedenen Modelle ein.

Dafür bohrt er mit einem Stichel, den er in seinen kurzen, kräftigen Fingern hält, einen nur unter der Lupe erkennbaren Krater in das Metall. Höchstens neun Stunden und 30 Minuten darf er dafür brauchen, seit ein Kollege, der mit dem Rücken zu ihm sitzt, diese Fabelzeit vorgelegt hat.

Seit 28 Jahren arbeitet Herr Schlunegger für Jaeger-LeCoultre. Langeweile? Kennt er nicht. „Die Zeit vergeht wie im Flug.“

Damit beschert er einem Satz eine Nachdenkpause, den ich mir kurz davor notiert habe: „Was für ein hübsches Paradoxon: Wenn es um wertvolle Uhren geht, spielt Zeit keine Rolle.“

Ein Irrtum, geboren aus der Stille und der Konzentration, die in den Werkstätten der Uhrmacher herrschen?

Nicht ganz, denn natürlich gibt es Uhren, für die die Meister freie Hand und praktisch unendlich Zeit haben. Die „Hybris Mechanica“ mit ihren bis zu 26 Komplikationen beispielsweise. Bis zu einem Jahr wird an solch einem Kunstwerk gearbeitet (und dabei sind die jahrelangen Vorarbeiten nicht eingerechnet).

Die Abteilungen für Komplikationen ist speziell gesichert.

Christian Laurent ist der Chef des „Atelier des Complications“, also der Komplikationsabteilung. Dieses Atelier darf nur durch eine Sicherheitstür betreten werden. Hier arbeiten junge Uhrmachermeister an der Seite großer Könner, um von ihnen zu lernen. Und hier präsentiert uns Herr Laurent eine Auswahl ausgewählter Meisterwerke.

Christian Laurent: „Erst ein mechanisches Werk gibt der Uhr eine Seele.“

Magisch wird es, als der Complications-Chef eine Uhr unter die Lupe schiebt und so auf einen Schirm projiziert – plötzlich sieht es so aus, als würde der Tourbillon schlagen wie ein menschliches Herz. Und ich verstehe den Satz, der mir kurz zuvor zugeflüstert worden ist: „Erst ein mechanisches Werk gibt der Uhr eine Seele.“

Apropos Seele: Irgendwann kommt sie zur Ruhe. Meine, meine ich jetzt. Ich drehe das Rad mit entspannter Leichtigkeit und sehe, wie sich der Stichel ins Metall fräst. Meine erste Guillochierung!, denke ich – mit jeder weiteren Runde wird das Muster deutlicher. Großartig! Bis ich Frau Romand wieder ihren Platz überlasse. Sie nimmt meine Scheibe, legt sie zur Seite. Und mir scheint, dass sie nachsichtig lächelt.

Jaeger-LeCoultre: Wenn die Geschichte wieder auflebt

Die Wurzeln des Unternehmens, das heute zum Richemont-Konzern gehört, gehen bis auf das Jahr 1833 zurück. Seit der Gründung durch Antoine LeCoultre (1803–1881) wurden mehr als 1.200 Kaliber geschaffen, die bis heute einen einzigartigen Ruf genießen. Reverso, Master oder Atoms gelten längst als Legenden. In diesem Jahr wurde die Kollektion Jaeger-LeCoultre Polaris präsentiert, die eine Hommage an die legendäre Memovox Polaris darstellt – trotz zarterer Indizes und größerer Ziffern ist die Ähnlichkeit frappant. Im Vallée de Joux beschäftigt Jaeger-LeCoultre heute 1.200 Mitarbeiter. Seit 1. Mai dieses Jahres wird das Unternehmen von Catherine Rénier als CEO geführt.

Durchmesser: 42 mm /// Gehäuse: Edelstahl /// Zifferblatt: schwarz mit Sonnenschliff, Körnung und Opalin-Veredelung /// Werk: mechanisches Werk mit Automatikaufzug, Kaliber Jaeger-LeCoultre 956 /// Band: Kautschuk mit Faltschließe /// Wasserdichtigkeit: bis 200 m /// Preis: 12.900 Euro

jaeger-lecoultre.com

Erstmals publiziert im Wiener #W429

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